Am 12. Januar 2008 verlor ein unbekannter Kunde im Backshop einer Supermarktfiliale der Kette Kaiser's Tengelmann in Berlin-Hohenschönhausen, Ecke Hauptstraße / Rhinstraße zwei Pfandbons in Höhe von je 48 und 82 Eurocent. Passiert schon mal und normalerweise keine Geschichte wert, wenn diese Bons nicht einen ungewöhnlichen Wertschöpfungsgang prozessiert hätten - fern von Pflaschensammlern und Altpapiercontainern. Die herrenlose Pfandscheine im Gesamtwert von 1,30 Euro wurden von MitarbeiterInnen der Filialkette gefunden und der Filialleiter bat darum, dass die Bons im Kassenbüro hinterlegt werden sollten, falls doch eine Kundin oder ein Kunde nach seinen verlorenen Bons Ausschau hält.
10 Tage blieben die 1,30 Euro auf zwei Stück Papier weiterhin herrenlos und zwar so lange bis eine der Kassiererinnen des Hauses, damals 50 Jahre alt, drei Kinder, sich erbarmte und dieses Pfand dann selbst in der Filiale einlöste, die sie seit nunmehr 31 Jahren beschäftigte. Persé ein Beweis von verschwindend geringer krimineller Energie. Aus Sicht des Otto-Normal-Verbrauchers ist kein ökonomischer Schaden erkennbar. Hätte die Kassiererin gewusst, dass aus Kaiser's Sicht schon eher daraus ein Problem erwächst, dass die Filiale mit einer fristlosen Kündigung ihrer langjährigen Mitarbeiterin löst — denn Kaisers ließ nach Bekanntwerden des Vorfalls daraufhin einen Marktleiter, Betriebsräte und Personalabteilung, eine Distriktmanagerin und zum guten Schluss sogar noch Richter des Bundesarbeitsgerichts sich mit diesem Fall beschäftigen — vielleicht würden dann die Pfandscheine noch heute auf ihren rechtmäßigen Besitzer warten oder, was eher anzunehmen ist, diese Scheine wären bereits im Kreislauf der Wiederverwertung nicht mehr als solche erkennbar. Somit verdichtete sich der anfänglich 1,30 Euro Schaden vom buchhalterischen Schminkfehler zu einem nun von Steuergeldern zu bezahlender Wert in Höhe von mehreren tausend Euro (allein das Grundgehalt eines Richters zwischen R6 und R8 liegt bei knapp 8000 und 9000 Euro).
Die Süddeutsche Zeitung zum 11. Juni 2010 fragt sich nicht ganz zu Unrecht: "Ist es das wert? Hat man bei Kaisers nichts Besseres zu tun, als mitlerweile zweieinhalb Jahre lang Erbsen zählen zu lassen?" Legt aber auch in bester rhetorischer Manie nach, dass es "mindestens genauso bescheuert" sei, dass eine festangestellte Kassiererin wegen 1,30 € ihre "gesamte berufliche und materielle Existenz" aufs Spiel setzt. Da darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Kasserin nach ihrer Entlassung nicht nur in ein sicheres soziales Netz fiel, sondern auch in ein engmaschiges solidarisches Netz aus öffentlicher Empörung und medialer Sympathie, und das Rechtbewusstsein in der Öffentlichkeit ins Wanken geriet, weil das Unrecht nur hinter den Kulissen erkennbar war. In gewissem Sinne ein rein betriebswirtschaftlicher Vor- und Aufwand wurde zu einem volkswirtschaftlichen 'Aufstand' arbeitsrechtlicher Moral- und Bedenkenträger.
Die ehemalige Kaisers Kassiererin gewann unter dem Spitznamen Emmely Berühmtheit, da ihre Klagen gegen die fristlose Kündigung beim Arbeitsgericht und dann später beim Landesarbeitsgericht keinem Erfolg beschieden war.
Hinter den Kulissen des Unverständnisses über den schon nichtig klingenden Grund der fristlosen Kündigung, verbergen sich die Vorgänge, die sich vor den ersten beiden Instanzen abgespielt haben. Denn sie bestritt dort das Unrecht, herrenlose Pfandbons ansich zu nehmen, wohl im Einklang mit ihrem Rechtsanwalt Herrn Benedikt Hopmann (Beitrag auf YouTube ansehen und -hören), der weder in einer solchen Tat Diebstahl noch den Tatbestand der Unterschlagung begünstigt sah. Herr Hopmann nutzte die Gelegenheit, den Spieß der Lage umzudrehen und begann, Emmelys Arbeitskollegin, also auch Kassiererin, die Emmelys Bon damals annahm mit in die Verantwortung zu nehmen und so Kaiser's-Tengelmann mit in die Pflicht des Missverständnisses zu nehmen. |
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Herr Hopmann, Emmelys Anwalt, machte den Causus noch spannender durch ähnliche Verhältnisse, nur in höheren Etagen. Bei vertraglich angestellten Managern oder Beamten urteilten die Gerichte in Deutschland längst nicht so streng wie im Fall von Arbeitnehmern und kleinen Angestellten, die wegen Bons, Buletten und Maultaschen vor die Tür gesetzt wurden und werden. Dagegen jedoch nicht ein einziger Fall, wo ein Beamter wegen eines geringfügigen Schadens entlassen wurde, zumindest nicht bei einmaligen Vergehen. Im Jahr 2000 erklärte der Bundesgerichtshof eine fristlose Kündigung an einem Geschäftsführer, der aus der Firmenkasse knapp 600 D-Mark für den privaten Bedarf hat mitgehen lassen für unwirksam. Herr Hopmann vertrat die Ansicht, dass eine Abmahnung seiner Mandantin völlig ausgereicht hätte und angesichts solcher Vergleiche eine fristlose Kündigung unverhältnismäßig gewesen sei.
Wie stellt sich die Gegenseite, also die Beklagte Kaiser's Tengelmann dar? Ihr geht es, laut ihrer Rechtsanwältin Frau Karin Schindler-Abbes, gar nicht so sehr um zwei gefundene Flaschenpfandscheine aus der Filiale Kaisers in Berlin in Höhe von 1,30 Euro, die von einer langjährigen Mitarbeiterin eingelöst wurden, sondern es geht um, wie es die Süddeutsche ausdrückt, ein "Gut, das mühsam zu erarbeiten und leicht zu verlieren ist" — nämlich das Vertrauen.
Frau Schindler-Abbes störte sich vor allem an die Verteidigungsstrategie der Emmely; wie diese eigene Kolleginnen bezichtigte, ihr die Pfandscheine zugeschoben zu haben. Alles Vorbehalte, die sich alsbald als haltlos entpuppten. Und gegenüber der Süddeutschen gestand die Anwältin aus Hannover: "Natürlich beeinflusst es den Arbeitgeber in seiner Entscheidungsfindung, wenn ein Arbeitnehmer immer wieder lügt und sogar Kollegen hineinzieht." Kaiser's Tengelmann entschied sich nicht für die Vertrauensfrage durch eine Abmahnung, sondern kündigte fristlos. Frau Schindler-Abbes ahnt zu diesem Zeitpunkt vermutlich nicht, dass sie mit der Vertrauensfrage dem Bundesarbeitsgericht das Skalpell an die Hand gereicht hat, um nicht den Kläger, sondern diesmal den Beklagten aufzuschneiden. Normalerweise entscheidet das Bundesarbeitsgericht schon seit Jahrzehnten im Zweifel wenig arbeitnehmerfreundlich, wenn es um Kleinigkeiten geht, wie zum Beispiel das Furore Bienenstich-Urteil von 1984, wo einer Bäckereifachverkäuferin fristlos gekündigt wurde, weil sie gegen Geschäftsschluss einen Bienenstich weggenascht hatte, der sonst weggeworfen worden wäre, weil er den nächsten Verkaufstag nicht ohne genusshaften Schaden zu nehmen überstanden hätte.
In Emmelys Fall aber entschließen sich die Richter dazu, das "Vertrauens-Argument des Arbeitgebers zu zerpflücken", wie es die Süddeutsche sieht, auch wenn Emmely pflichtwidrig gehandelt habe, weil der Pfandschein nicht, so wie vom Filialleiter angewiesen, im Kassenbüro hinterlegt wurde. Da macht auch der vorsitzende Richter Burghard Kreft kein Hehl draus. Und dass dies nicht ganz unerheblich für oder wider eine Kündigung sei, genauso wenig wie die lange Betriebszugehörigkeit und dass die Klägerin sich in dieser langen Zeit nichts Gerichtsverwertbares habe zuschulden kommen lassen, erklärt er in seinen Worten wie folgt: "Dadurch hat sie sich einen Vorrat an Vertrauen erworben, der nicht durch eine einmalige, erhebliche Verfehlung völlig aufgezehrt wird."
Kurzum: dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt hätte eine Abmahnung völlig gereicht, hält eine fristlose Kündigung als in diesem Fall für nicht geboten und gibt der Klage der Klägerin statt, so dass sie auf Wiedereinstellung nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit wieder Vertrauen darf. Soviel zum Thema Vertrauen.
(JA)
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