Der "Speisekartenfall" bleibt auch noch weitere hundert Jahre wohl unentschieden. Kein Fall aus dem Strafrecht und auch kein verfassungsbedenklicher Rechtskonflikt, der das Rechtsbewusstsein im Lande erschüttern könnte, allerdings doch eine Begebenheit, die in einem nahezu perfekten Rechtsstaat wie Deutschland eine juristische Herausforderung darstellt, dessen Lösungen als spielerisch angesehen werden können. Dass der als "Speisekartenfall" unter Juristen und Jurastudierenden bekannte Causus eher ein Spielfall für letztere ist, dürfte deshalb so naheliegen, weil dieser Fall - wie bereits angedeutet - nicht von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und zum Zweiten auch in der Realität nur äußerst selten vorkommt (vorausgesetzt, der Fall macht in der Öffentlichkeit keine Schule).
Angenommen, Sie säßen mit Ihrer Liebsten in einem Sterne-Restaurant und studieren die Karte mit hohen, aber berechtigten Menupreisen und stellen dabei fest, dass die Preise mit kleinen weißen Pin-Ups befestigt sind. Anschließend bestellen Sie das 4-Gänge-Menu für zwei Personen zum Preis von 168 Euro. So weit so gut. Doch dann verläuft das Dinner nicht nach Ihren Erwartungen. Was es auch war, ob ein kleines Missverständnis in der Kerzenlichtkonversation oder ob tatsächlich irgendetwas mit dem Lobster oder dem Sorbé nicht stimmte. Irgendetwas ist missgünstig und bringt Sie auf die lausbubische Idee, nach dem Essen bei einem Glas Wein, die Speisekarte nochmals zu ordern, aufzuschlagen und unauffällig bei Ihrem Menu das weiße Pin-Up mit der 1 vor der 68 Ihres Menüpreises abzukratzen. Feinsäuberlich und professionell, aber mit der diebischen Freude eines Lausbubs. Anschließend, aus dem Menupreis sind nun statt 168 Euro 68 Euro geworden, klappen Sie die Menukladde zu, begleichen großzügig Ihre Rechnung von 168 Euro sogar mit 200 Euro und verlassen mit Ihrer Liebsten das Lokal, ohne über die Folgen nachzudenken.
Am Tag darauf bekommt der Nobelkoch und Restaurantbesitzer Ärger mit einem Gast. Der Gast bestellte für sich und seine Gattin ebenfalls dieses 4-Gänge-Herbstmenu mit Sorbé - allerdings für 68 Euro. Er wunderte sich nicht über den günstigen Preis, sondern freute sich, bestellte ohne den Kellner zu fragen, ob es sich bei diesem Preis um ein Sonderangebot handelte, sondern setze diesen als gegeben voraus. Der Kellner wiederum ahnte nicht, dass die Karte von Ihnen bereits am Abend zu vor manipuliert wurde. Er hegte ja auch kein Misstrauen Ihnen gegenüber. Warum auch? Bei dem guten Trinkgeld von gestern?
In diesem konkreten Fall hat der Restaurantbesitzer eine Chance den ursprünglichen Preis für sein Luxusmenu zu verlangen? Oder hat er diese Möglichkeit nicht? Es kommt drauf an. In einer Art Übung für Jurastudierende der Universitäten Mannheim und Frankfurt an der Oder wurde dieser Fall nachgespielt. Dazu erklärten sich eine Richterin und vier Richter aus unterschiedlichen Senaten bereit eine Art Bundesgerichtshof zusammenzustellen und ließen zwei Studentinnen aus Frankfurt an der Oder und einer Studentin und einem Studenten aus Mannheim als Klageführer und Verteidigung gegeneinander antreten.
Ein ziemlich heikler Fall ist das, der die Juristen schon seit 1892 beschäftigt und erstmals von dem Rechtsgelehrten Rudolf von Ihering in die Rechtsdiskussion eingebracht wurde. Bisher gibt es zu diesem Fall keine klare Rechtssprechung, weil sowohl der Gast, der sich weigert 168 Euro zu bezahlen, als auch der Gastgeber, der hundert Euro mehr verlangt, als auf der Karte standen, Recht haben. Denn sie haben beide überzeugende Argumente:
Der Gast beruft sich auf das Dokument Speisekarte und der Gastgeber weist auf das Missverhältnis zwischen Preis und Leistung hin. In dem von den Jurastudierenden und der Profijury gestellten Verfahren um den "Speisekartenfall" kam am Ende ein Vergleich zustande: Der Gastgeber muss seinen Gästen von den 100 Euro, die er zusätzlich einforderte, 35 Euro an das Ehepaar zurückzahlen.
Welche Sozialmoral lässt sich aus diesem Fall schließen: Am besten ist es - gerade bei Spitzenrestaurants - dass auch die Speisekarte einen gewissen Luxus ausmacht, so dass diese nicht so leichtfertig zu verfälschen ist oder besser: Sie gar nicht erst auf solche Ideen kommen. Tun Sie sicher eh nicht;-)